
Toxikologie Vermeintlich breit wirksames Gegengift für Schlangenbisse entdeckt
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02. Mai 2025, 17:00 Uhr
Ein innovatives neues Mittel soll Schlangengift behandeln, unabhängig von der Art. Die Entdeckungsgeschichte ist kurios, die Wirksamkeit umstritten.
Die Angst des Menschen vor der Schlange hat es bereits in die Bibel geschafft. Doch auch heute noch hat das Gift der Reptilien fatale Auswirkungen, selbst wenn uns Giftschlangen hierzulande vor allem im Zoo begegnen. In Mitteldeutschland etwa kommt nur die Kreuzotter vor, sehr selten und stark gefährdet. Die ebenfalls giftige Aspisviper gibt es nur im Südschwarzwald und sie steht auf der Roten Liste als vom Aussterben bedroht.
Weltweit aber sind Giftschlangen eine echte Gefahr. Zwischen 80.000 und 140.000 Menschen sterben jährlich an den Folgen eines Schlangenbisses, Hunderttausende erleiden nach Angriffen von Nattern, Vipern und Co. Behinderungen. Gegenmittel gibt es zwar, doch sie sind sehr speziell, haben Nebenwirkungen und sind dort, wo sie gebraucht werden, oft nicht lukrativ für die Hersteller. Ein neuer Ansatz gibt Hoffnung für ein globales Antivenom – mit bisher allerdings noch erheblichen Einschränkungen.
Hunderte freiwillige Bisse und Injektionen mit Gift
Die Geschichte der Entdeckung des neuen Mittels beginnt bei Tim Friede. Der Schlangenliebhaber ließ sich von seinen giftigen Haustieren über zwei Jahrzehnte etwa 200mal beißen, verabreichte sich dazu hunderte Injektionen mit Venomen – von insgesamt 16 verschiedenen tödlichen Arten. Dadurch wollte er eine Immunität entwickeln, falls ihn eins seiner schuppigen Tierchen aus Versehen anfallen sollte. Als dieser Versuch seiner Meinung nach gut ging, wandte sich der Mechaniker aus dem US-Bundesstaat Wisconsin an die Wissenschaft und hat inzwischen eine Firma, die auf Grundlage seines Bluts an Gegengiften arbeitet.
Kombination wirkte gegen 13 von 19 Giftschlangenarten
Wissenschaftler aus den USA haben Friedes Hyperimmunität genauer untersucht und zwei breit neutralisierenden Antikörper – LNX-D09 und SNX-B03 – ausgemacht, die verschiedene langkettige (LNX) und kurzkettige (SNX) Neurotoxine binden und neutralisieren können. Diese beiden Antikörper haben sie mit einer dritten Komponente kombiniert und so einen Cocktail entwickelt, dessen Wirksamkeit gegen 19 ausgewählte Schlangengifte sie an Mäusen testeten. "Als wir bei drei Komponenten angelangt waren, verfügten wir über einen beispiellos breiten Schutz für 13 der 19 Arten und einen Teilschutz für die übrigen, die wir untersuchten", erklärt Jacob Glanville, Mitautor einer neuen Studie und Geschäftsführer von CentiVax – das Unternehmen, das er gemeinsam mit Friede gegründet hat.
Peter Kwong, der mit Glanville an der Studie gearbeitet hat und an der Columbia University in New York zu medizinischen Themen forscht, sucht nach weiteren Komponenten auf dem Weg zu nach einem universellen Gegengift. Kwong ergänzt: "Wir drehen jetzt das Rad weiter und stellen Reagenzien her, um diesen Annäherungsprozess zu durchlaufen und herauszufinden, welcher Cocktail mindestens ausreicht, um einen breiten Schutz gegen Viperngift zu bieten."
Kein Schutz gegen Vipern
Denn, das ist ein Problem der Forschenden, das neue Antivenom wirkt nicht gegen das Gift von Vipern – laut Benno Kreuels vom Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin (BNITM) in Hamburg die Art von Schlangen, die vermutlich für die meisten Todesfälle verantwortlich ist. Zu den Viperidae gehört auch die in Deutschland heimische Kreuzotter. Außerdem – so schränken Glenville und Kollegen ihre Ergebnisse selbst ein – sind die bisherigen Versuche an Mäusen noch weit entfernt von einem Nachweis der Wirksamkeit beim Menschen. Die Amerikaner wollen daher in nächsten Untersuchungen durch Schlangenbisse vergiftete Hunde in Australien mit dem Gegenmittel behandeln.
Außerdem sei die größte Herausforderung für die Entwicklung von Medikamenten gegen Schlangenbisse nicht die Wissenschaft, sondern die Ökonomie, erklärt Michael Hust von der TU Braunschweig. Mit Gegengiften lasse sich schlicht nicht so viel Geld verdienen. Dennoch sieht er die Vorteile des Ansatzes des neuen Antivenoms: "Mit diesem Ansatz sollen auch die klassischen Tierseren ersetzt werden, die bisher gegen Schlangentoxine eingesetzt werden, denn Seren aus Tieren können starke Nebenwirkungen haben und zum Beispiel zur Serumkrankheit führen."
Universelles Gegengift kurz vor der Markteinführung?
Neben einer Verminderung der Nebenwirkungen hat das neue Mittel dazu auch noch einen nicht zu vernachlässigenden Vorteil, wenn es denn wirklich so wirksam ist wie erhofft: Bisher sind Ärzte bei der Behandlung von Schlangenbissen darauf angewiesen zu wissen, welche Art zugeschnappt hat. Dies würde bei einem Gegengift mit universeller Effektivität obsolet.
Doch von dieser allgemeinen Wirksamkeit sind die Wissenschaftler von CentiVax laut Andreas Laustsen-Kiel von der Technischen Universität Dänemark noch weit entfernt. "Während viele Elapidae-Gifte (Giftnatter-Gifte; Anm. d. Red.) neutralisiert werden, gibt es andere Elapidae-Gifte in denselben Regionen, die nicht neutralisiert werden. Man hat einfach diejenigen ausgewählt, die funktionieren." Der Bioingenieur ergänzt: "Die Arbeit ist dennoch großartig, allerdings sollten aus der Studie nicht mögliche Übertreibungen über ein 'universelles Gegengift, das kurz vor der Markteinführung steht' resultieren."
Damit es überhaupt zu einer Markteinführung kommt, appelliert Jacob Glanville an Stiftungen, Regierungen und Pharmaunternehmen, um die Herstellung und Weiterentwicklung des Breitspektrum-Gegengifts zu unterstützen. "Dies ist von entscheidender Bedeutung, denn obwohl es jedes Jahr Millionen von Schlangenvergiftungen gibt, findet der Großteil davon in den Entwicklungsländern statt, wo ländliche Gemeinden unverhältnismäßig stark betroffen sind", sagt der Geschäftsmann.
Link zur Studie
Die Untersuchung "Snake-venom protection by a cocktail of varespladib and broadly neutralizing human antibodies" ist im Fachjournal "Cell" veröffentlicht wurden. Die gängige Herstellung von Antivenomen und Probleme mit deren Verfügbarkeit in Südafrika hat die Tagesschau kürzlich beleuchtet.
jar/smc/pm
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | 20. April 2025 | 19:10 Uhr
MDR-Team vor 5 Tagen
Hallo klaus.kleiner77,
ein wirkliches Breitband-Gegengift liegt erst dann vor, wenn Wirksamkeit und Sicherheit in klinischen Studien nachgewiesen sind. Aktuell handelt es sich um einen vielversprechenden Forschungsansatz – ein wichtiger Schritt, aber noch kein fertiges Medikament. Im Artikel heißt es dazu. "Doch von dieser allgemeinen Wirksamkeit sind die Wissenschaftler von CentiVax laut Andreas Laustsen-Kiel von der Technischen Universität Dänemark noch weit entfernt. "Während viele Elapidae-Gifte (Giftnatter-Gifte; Anm. d. Red.) neutralisiert werden, gibt es andere Elapidae-Gifte in denselben Regionen, die nicht neutralisiert werden. Man hat einfach diejenigen ausgewählt, die funktionieren." Der Bioingenieur ergänzt: "Die Arbeit ist dennoch großartig, allerdings sollten aus der Studie nicht mögliche Übertreibungen über ein 'universelles Gegengift, das kurz vor der Markteinführung steht' resultieren."
Freundliche Grüße vom MDR WISSEN-Team
MDR-Team vor 7 Tagen
Hallo part,
danke für ihren Beitrag. Schlangen spielen in der Tat eine wichtige Rolle im Ökosystem indem sie eine Überpopulation verschiedener Arten verhindern. Gleichzeitig sind sie selbst auch Nahrung für anderen Raubtiere (u.a. Störche und Igel). Mehr dazu lesen Sie hier: https://www.ardalpha.de/wissen/natur/tiere/schlangen-angst-faszination-reptilien-100.html
Liebe Grüße aus der MDR-Wissen-Redaktion
part vor 1 Wochen
Bedenkt man den Nutzen, den die vielen Schlangen auf dieser Welt gegenüber ihrer Umwelt haben: sie befreien uns vor einer Überbevölkerung von Nagetieren, dann sind die Kollateralschäden beim Menschen durch Bisse prozentual als gering zu betrachten gegenüber den Schäden, die Nagetiere in den Gesellschaften anrichten würden bei ungehinderter Verbreitung. So gesehen, Schlangen zwingen uns bedachtsam durch die Welt zu gehen...