Rabbiner Daniel Fabian 5 min
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MDR Kultur | 02.05.2025 | Wochenabschnitt "Tazria-Metzora“ Schabbat Schalom mit Rabbiner Daniel Fabian: Zwischen Worten und Wunden – Die zeitlose Lektion von "Tazria-Metzora"

13. Dezember 2024, 13:48 Uhr

Selbst wenn ein Defekt sichtbar ist, soll man Raum für Zweifel lassen. Eine Kultur der Demut könnte viele Konflikte entschärfen – innerlich wie äußerlich, meint der Magdeburger Rabbiner Daniel Fabian in seiner Auslegung des Wochenabschnitts "Tazria-Metzora".

Im Wochenabschnitt Tazria-Metzora begegnen wir einem der ungewöhnlichsten Phänomene der Tora: der Hautkrankheit Zaraat. Doch wie viele Kommentatoren seit Jahrhunderten betonen, handelt es sich bei Zaraat nicht um eine medizinische Diagnose im modernen Sinn, sondern um eine spirituelle Krankheit – ein äußeres Zeichen innerer Zerrüttung.

Der Talmud bringt Zaraat in direkten Zusammenhang mit Lashon Hara, der üblen Nachrede. Damit ist zunächst gemeint, Wahrheiten über andere Menschen auf negative Weise darzustellen.

Wenn das Fremde zum Sündenbock wird

Wir alle tendieren dazu, über andere zu urteilen und unser Urteil zu verbreiten. Manchmal tun wir das aus mangelndem Selbstbewusstsein. Wenn der andere abgewertet wird, wertet mich das automatisch auf. Manchmal ist es Ausdruck eigener Enttäuschung oder sogar Wut über etwas, was der andere getan hat. Schuld hat dabei immer der andere.

Diese Gefahr betrifft aber nicht nur den Einzelnen, sondern auch die gesellschaftliche und politische Sphäre. In Zeiten globaler Krisen – ob es um Kriege, Flucht oder wirtschaftliche Unsicherheit geht – ist es immer angenehm und einfach, Schuldige zu suchen. Der andere, der Fremde, der Andersdenkende wird rasch zum Sündenbock.

In einer Zeit, in der Worte dann auch noch in Windeseile durch soziale Medien, Talkshows und politische Reden verbreitet werden, erscheint dies aktueller denn je.

Wodurch die Gesellschaft zerfällt

Heute ist es nicht mehr die Haut, die erbleicht oder sich verfärbt – es sind unsere gesellschaftlichen Strukturen, die aufgrund einer inneren Krankheit äußerliche Symptome zeigen: Polarisierung, Misstrauen, Hass. Wenn ständig andere entwertet werden, sollte man sich nicht wundern, wenn die Gesellschaft zerfällt.

Eine Kultur der Empörung, in der moralische Überheblichkeit regiert und Dialog durch Verurteilung ersetzt wird, ist selbst eine Art Zaraat.

Isolation zur Reflexion und Reinigung nötig

Was ist nun zu tun? Was schreibt die Tora vor? Der Metzora, also der von Zaraat befallen ist, muss sich aus dem Lager zurückziehen, sich isolieren – nicht als Strafe, sondern als Prozess der Reflexion und Reinigung. Vielleicht ist das eine Anregung für den einzelnen in unserer heutigen Zeit: sich vorübergehend aus dem ständigen Strom von Wertungen, Beurteilungen und dem Verurteilungen zurückziehen und auf die innere Stimme zu besinnen.

In der Tora muss der Priester, der den Zaraat begutachtet, behutsam urteilen, darf nicht vorschnell entscheiden. Ebenso sollte auch unsere heutige Gesellschaft nicht hastig verurteilen, sondern die Ursachen für soziale Symptome tiefgründig und frei von vorschnellem Urteilen analysieren.

Eine besonders faszinierende Stelle beschreibt Zaraat an einem Haus: Wenn die Wände befallen sind, muss das Gebäude eventuell abgerissen werden. Doch bevor das geschieht, soll der Hausbesitzer dem Priester sagen: k’nega nire’ah li babayit – "Etwas wie eine Plage sehe ich im Haus".

Die Kommentatoren betonen die vorsichtige Sprache des "etwas wie". Selbst wenn ich einen Defekt sehe, spreche ich ihn mit Demut aus, lasse Raum für Zweifel. Was für ein Kontrast zur heutigen Rhetorik, in der Meinung oft mit Gewissheit verwechselt wird.

Was wäre, wenn wir in gesellschaftlichen und politischen Diskussionen öfter mal so sprechen würden: "Es scheint mir…", "Ich könnte mich irren, aber…", oder "Vielleicht liege ich falsch, aber…"? Eine Kultur der Demut könnte viele Konflikte entschärfen – innerlich wie äußerlich.

Tazria-Metzora ruft uns dazu auf, unsere Sprache zu reinigen, unsere Perspektive zu klären, uns selbst zu hinterfragen. Nur dann kann auch das heilige Lager – unsere Gesellschaft – rein werden.

Schabbat Schalom!

Zur Person: Daniel Fabian Der Landesrabbiner von Sachsen-Anhalt wurde 1974 in Israel geboren und wuchs in Deutschland auf. Ein Studium der Biologie schloss er mit einem Diplom an der Humboldt-Universität zu Berlin ab. Von 2007 an war Daniel Fabian einer der ersten Studenten am Rabbinerseminar zu Berlin. Die feierliche Ordination zum orthodoxen Rabbiner erfolgte im Jahr 2011. Bereits während seines Studiums hatte Fabian in jüdischen Bildungseinrichtungen unterrichtet, ab 2011 übernahm er verschiedene Leitungsfunktionen in der Stiftung Lauder Yeshurun. 2021 wurde Fabian Landesrabbiner von Sachsen-Anhalt, seit 2022 nimmt er dort auch die Aufgabe des Polizeirabbiners wahr. Daniel Fabian ist verheiratet und hat fünf Kinder.

Schabbat Schalom bei MDR KULTUR Die Sendung bezieht sich auf die jüdische Tradition, die fünf Bücher Moses im Gottesdienst der Synagoge innerhalb eines Jahres einmal vollständig vorzulesen. Dabei wird die Thora in Wochenabschnitte unterteilt. Zugleich ist es häufige Praxis, die jeweiligen Wochenabschnitte auszulegen.

Bei MDR KULTUR geben die Autorinnen und Autoren alltagstaugliche Antworten auf allgemeine Lebensfragen, mit denen sie auch zur persönlichen Auseinandersetzung anregen. Zugleich ist "Schabbat Schalom" eine Einführung in die jüdische Religion, Kultur und Geschichte.

"Schabbat Schalom" ist immer freitags um 15:45 Uhr bei MDR KULTUR zu hören sowie online abrufbar bei mdr.de/religion.

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | MDR KULTUR | 02. Mai 2025 | 15:45 Uhr