
MDR | 09.05.2025 „Gefängnisse abschaffen? Was besser wirkt als Haft“
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Circa 58.000 Menschen sitzen derzeit in deutschen Gefängnissen. Über die Hälfte von ihnen wird nach der Entlassung wieder rückfällig. Diese Statistik lässt Zweifel am Strafvollzug aufkommen. Der Journalist Frank Seibert will wissen: Läuft etwas grundlegend schief in deutschen Gefängnissen? Er trifft sich mit Kriminellen und Opfern, Gefängnisforschern und JVA-Bediensteten.
Für ARD WISSEN stellt er sich der Frage, wie Täter besser resozialisiert werden können. Die Dokumentation vom MDR wird am Montag, 12. Mai 2025, um 22.50 im Ersten ausgestrahlt. Und auch MDR WISSEN fragt: „Was nützen Gefängnisse?“ – zu hören ab 28. Mai im Rahmen der Podcast-Reihe „Die großen Fragen in zehn Minuten“ in der ARD Audiothek.
Um zu verstehen, was Gefängnis mit Menschen macht, geht Frank Seibert freiwillig in den Knast – in die JVA Halle (Saale). Für einige Stunden fällt eine Zellentür hinter ihm zu. Isolation und der plötzliche Kontrollverlust verändern alles, sagt er nach seiner „Entlassung“.
Was bringt das Einsperren? Der Jurist und ehemalige Leiter der sächsischen Justizvollzugsanstalt Zeithain Thomas Galli, sagt: Gar nichts! Er würde 90 Prozent der Menschen, die hinter Gitter sind, unter Auflagen freilassen. Gefängnis ist soziale Ausgrenzung und obendrein teuer, mit 200 Euro pro Gefangenen am Tag. In Summe kostet es die Steuerzahler täglich über zehn Millionen Euro. Das Geld würde Thomas Galli lieber in Sozialarbeit und Therapie für die Straffälligen stecken.
René Müller arbeitet seit über 20 Jahren als Beamter im Gefängnis und widerspricht: Das Wegsperren von Straffälligen dient der allgemeinen Sicherheit, der Abschreckung und dem Gerechtigkeitsgefühl.
Frank Seibert geht für ARD WISSEN der Frage nach: Wer hat recht? Um dies zu beantworten, trifft er sich mit Gefängnisforscherin Kristin Drenkhahn, die die Wirkung des sozialen Knast-Klimas auf die Resozialisierung untersucht. Der ehemalige Gefangene Thomas, der versucht hatte, eine Frau zu töten, beschreibt dieses Klima aus einer sehr persönlichen Erfahrung heraus. Knast verändert – die meisten „Knackis“ jedoch nicht zum Guten, so sein Fazit.
Die Neurowissenschaftlerin Simone Kühn vom Max-Planck-Institut Berlin und der Psychiater Johannes Fuß von der Uni Duisburg/Essen untersuchen die Verhaltensweisen und damit einhergehende Hirnveränderungen von Gefangenen. Das weltweit erste Forschungsprojekt, das der Frage nachgeht, ob hinter Gittern so viel Monotonie und Reizarmut herrscht, dass sich dadurch bestimmte Hirnregionen verkleinern oder gar inaktiv werden. Macht Gefängnis also eher krank, statt fit für das Leben danach?
In Norwegen stellte sich der damalige Justizminister diese Frage bereits in den späten 1980er Jahren, als dort die Rückfallquoten ebenfalls bedenklich hoch waren. Um sie zu beantworten, gründete er eine Expertengruppe. Der Jurist Are Høidal gehörte ihr an. Frank Seibert trifft Høidal in einem Gefängnis in der Nähe von Stavanger. Dieses Gefängnis arbeitet nach dem sogenannten norwegischen Normalitätsprinzip. Das heißt: Alle Kriminelle werden mit Respekt und Freundlichkeit behandelt. Die Gefangenen, die kooperieren – und das sind die meisten –, dürfen nach kurzer Zeit in eine Wohnsiedlung ziehen. Sie leben hier in kleinen Gemeinschaften, ohne Gitter. Es gibt zudem ein Ferienhaus für Angehörige, einen Laden, ein Kulturhaus, einen Sportplatz und viel Waldfläche. Die norwegische Idee funktioniert. Die Rückfallquote sank um 50 Prozent.
Frank Seibert will wissen, was von diesen Ideen auch in Deutschland funktionieren könnte und findet erste Ansätze in Sachsen, wo es bereits Versuche für Haft ohne Gefängnisse gibt – unter anderem in Mohorn bei Freital. Ein Pilotprojekt ermöglicht hier strafgefangenen Frauen, ihre Strafe auf einem Bauernhof außerhalb des Gefängnisses zu verbüßen – mit bisher überzeugenden Ergebnissen.
Die ARD-WISSEN-Dokumentation „Gefängnisse abschaffen? Was besser wirkt als Haft“ ist eine Produktion des MDR.
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